2. Elektrifizierung der Deutschen Bundesbahn
2.1 Startbedingungen
2.1.1 Nachkriegszeit
Im Sommer 1945 fuhren nur wenige Züge über Deutschlands Eisenbahnstrecken, denn die Bahnanlagen boten nahezu überall ein Bild der Zerstörung, galten sie doch während des Krieges als bevorzugte Ziele für Luftangriffe. Was von Bomben und Beschuss verschont geblieben war, zerstörten Sprengkommandos der Deutschen Wehrmacht. Um dem Feind den Vormarsch zu erschweren, haben sie noch bis in die letzten Kriegstage hinein wichtige Brücken und Tunnel gesprengt. (107)
Genaue Zahlen über das Ausmaß der Zerstörungen sind nicht bekannt. Bezogen auf die Reichsgrenze von 1937 gehen Experten davon aus, dass ca. 6.200 km Gleis, über 4.000 Eisenbahnbrücken und 75 Tunnel nicht mehr befahrbar waren. Im Vergleich zu 1936 hatte der Bestand an Rollmaterial rapide abgenommen. Nur noch 40 Prozent der Personenwagen, 75 Prozent der Güterwagen und 65 Prozent der Lokomotiven waren zu gebrauchen. (108) Von den annähernd tausend Elektrolokomotiven der Deutschen Reichsbahn wurden nach Kriegsende in Bayern 456 Stück registriert, von denen 26 Totalschäden und etwa 200 beschädigte Maschinen zunächst nicht mehr einzusetzen waren. (109) In Süddeutschland entstanden Schäden an Fahrleitungen und Unterwerken, die einen Anteil von rund 30 Prozent ausmachten. (110)
Um die deutsche Bevölkerung zu versorgen, musste der Eisenbahnbetrieb wieder ins Rollen kommen. Daran waren auch die Besatzungsmächte aus Gründen der eigenen Versorgung interessiert. Zunächst befreiten die Eisenbahner die Bahnhöfe und Gleisanlagen von Schutt und Asche, und trotz der erheblichen Schwierigkeiten fuhren schon im Mai 1945 wieder die ersten Güterzüge ohne Fahrplan auf Sichtweite. Die Dampflokomotiven wurden aus Kohlemangel oft mit Holz oder Torf befeuert. (111) Auch die Elektrolokomotiven fuhren im Mai 1945 wieder. Zunächst nur auf Strecken um München; im Februar 1946 dann auf dem gesamten süddeutschen Netz. (112)
Der Eisenbahnbetrieb stand nach Kriegsende unter militärischer Kontrolle der Alliierten und wurde mit eigenem Personal und deutscher Hilfe durchgeführt. Zivilverkehr war anfangs nur in wenigen Zügen des Nahverkehrs erlaubt. (113) Um die Versorgung der Truppen und der Bevölkerung in Deutschland sicherzustellen, sorgten die vier Siegermächte in ihren Gebieten schon bald für eine Zentralstelle zur Leitung des Bahnbetriebes. In ihren Dienststellen beanspruchten die drei Westmächte die Oberaufsicht. Briten und Amerikaner arbeiteten ab Ende 1945 mehr und mehr mit den deutschen Fachleuten zusammen. (114)
Ein Hauptproblem im Bahnbetrieb war der schlechte Zusatnd und die geringe Stückzahl von Dampflokomotiven, deren Wartung und Reparatur im Krieg vernachlässigt worden war. Die Eisenbahner versuchten unter widrigsten Umständen den bestand an Lokomotiven zu erhalten. Ein Arbeiter in einem Ausbesserungswerk (AW) beschrieb die Situation im Juni 1945 wie folgt: „Wir hatten nichts zu essen, die Scheiben waren kaputt, gar nichts hatten wir, aber arbeiten mussten wir. Denn die Lokomotiven kamen haufenweise ins AW reingerollt, noch mit der Aufschrift „Räder müssen rollen für den Sieg“.“ (115) Überholungen und Reparaturen waren zunächst die einzigen Möglichkeiten, den Fahrzeugbestand zu halten, denn Neubauten waren von den Besatzungsmächten verboten. (116) Da viele Lokschuppen zerstört waren, brachte der Winter 1945/46 große Betriebsschwierigkeiten, weil Dampflokomotiven mit ihrem Wasserkessel unter freien Himmel nur unzureichend gegen Frost geschützt werden konnten. (117) Zwar verkehrten mit der Zeit immer mehr Züge, aber die Fahrt endete häufig vor zerstörten Brücken, dessen Wiederaufbau besonders wichtig war. Kleine Brücken konnten durch Breitflanschträger verhältnismäßig schnell instandgesetzt werden, während die großen Strom- und Talbrücken weitaus schwieriger zu reparieren waren. Soweit möglich wurden die abgestürzten Brückenteile wiederverwendet, da neues Material oft nicht zur Verfügung stand. Darüber hinaus installierten die Brückenbauer verschraubbare Fachwerkbrücken aus sogenannten SKR-Gerät (SchaperKrupp-Reichsbahn) oder ähnlichen Stahlkonstruktionen. (118) Diese provisorischen Brücken blieben oft über Jahrzehnte bestehen. (119)
Um die Wirtschaft in Westdeutschland anzukurbeln und den freien Warenverkehr zu erleichtern, entschlossen sich zunächst die Amerikaner und Engländer, bizonale deutsche Verwaltungsräte einzusetzen. Unter anderem entstand auch ein Verwaltungsrat mit dm Sitz in Bielefeld. Im Vereinigten Wirtschaftsgebiet wurde im Herbst 1947 der Sitz nach Offenburg verlegt. Aus dem Verwaltungsrat entstand später das Bundesverkehrsministerium in Bonn. (120)
Ab 1948 wurden die Anzeichen für einen wirtschaftlichen Aufschwung immer deutlicher. Sie führten zu Überlegungen, wie der zukünftige Bahnbetrieb zu gestalten wäre. Dabei trat die Elektrifizierung der Eisenbahn wieder in den Blickpunkt. (121)
Bis 1949, dem Gründungsjahr der Deutschen Bundesbahn, war es der Eisenbahn gelungen, unter erheblichen Anstrengungen einen Teil der Kriegsschäden zu beseitigen. Die wichtigsten Flussübergänge, darunter 11 Rheinbrücken, waren zumindest provisorisch wieder befahrbar und der Ausnutzungsgrad der Lokomotiven hatte den Vorkriegsstand erreicht. (122)
2.1.2 Gründung der Deutschen Bundesbahn
Schon 1946 versuchten die Länder eine zentrale Verwaltung der Eisenbahn für ganz Deutschland zu schaffen. (123) Es entstanden aber in den einzelnen Zonen separate Gesetze zu Verwaltung und Betrieb der Deutschen Reichbahn. Eine gemeinsame gesetzliche Regelung kam weder in der Bizone noch im Vereinigten Wirtschaftsgebiet zustande. (124)
Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 übernahm der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die ehemalige Deutsche Reichsbahn. (125) Fertige Gesetzentwürfe waren allerdings nicht vorhanden, so dass zunächst mit provisorischen Regelungen gearbeitet werden musste. (126) Erst am 7. September 1949 wurde die Deutsche Reichsbahn in Deutsche Bundesbahn (DB) umbenannt. (127) Das entsprechende Bundesgesetz kam noch später am 13. Dezember 1951 nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz vom 29.März 1951 zustande. (128) Der Grund für die lange Gesetzgebungsphase lag in den vielen Unwägbarkeiten der weiteren Entwicklung in Deutschland. Um eine grundlegende Neuordnung zu schaffen, mussten erst einige Voraussetzungen geklärt oder überschaubar sein. Dazu gehörte
„1. dass die Währung stabil ist,
2. dass die Verteilung der Verkehrsleistungen zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern zu übersehen ist,
3. dass der Umfang der der Eisenbahn zuzumutenden gemeinwirtschaftlichen Leistungen einigermaßen feststeht und namentlich auch
4. dass die Art, wie die Behebung der Kriegsschäden zu finanzieren ist, geregelt ist.“ (129)
Wie sich später zeigen sollte, wurden die gesetzlichen Regelung durch die Entwicklung in den 50er Jahren überholt, so dass Neuordnungen dringend nötig wurden. (130) Im Zusammenhang mit den verkehrspolitischen Maßnahmen der Bundesregierungen gehe ich auf das Bundesbahngesetz und deren Änderungen noch ein. An dieser Stelle möchte ich auf einige grundsätzliche Paragraphen hinweisen, welche die Aufgaben und Verwaltung der Bundesbahn betreffen und im Zusammenhang mit Modernisierungsmaßnahmen wichtig sind.
Im Bundesbahngesetz vom 13. Dezember 1951 (131) heißt es unter anderen:
„Erster Abschnitt
Rechtsstellung und Aufgabe
§ 1 Sondervermögen
Die Bundesrepublik Deutschland verwaltet unter dem Namen „Deutsche Bundesbahn“ das Bundeseisenbahnvermögen als nicht rechtsfähig Sondervermögen des Bundes mit eigener Wirtschafts- und Rechnungsführung.
§ 4 Verwaltung und Betriebsführung
(1) Die Deutsche Bundesbahn ist unter Wahrung der Interessen der deutschen Volkswirtschaft nach kaufmännischen Grundsätzen zu verwalten. ....Die Anlagen und die Fahrzeuge der Deutschen Bundesbahn sowie das gesamte Zubehör sind dauernd in gutem Zustand zu erhalten und nach den Bedürfnissen des Verkehrs und nach dem jeweiligen Stand der Technik zu erneuern und weiterzuentwickeln.
§ 7 Organe
Die Organe der Deutschen Bundesbahn sind der Verwaltungsrat und der Vorstand.
Zweiter Abschnitt
Vorstand der Deutschen Bundesbahn
§ 8 (2) Die Vorstandsmitglieder sollen hervorragende Kenner des Verkehrswesens und der Wirtschaft sein
Dritter Abschnitt
Verwaltungsrat
§ 10 (1)
Der Verwaltungsrat besteht aus zwanzig Mitgliedern. ....
§ 10 (2)
Der Verwaltungsrat besteht aus zwanzig Mitgliedern. ....
§ 10 (2)
Der Verwaltungsrat umfasst vier Gruppen zu je fünf Mitgliedern, die von der Bundesregierung ernannt werden:
a) Gruppe A: Bundesrat,
b) Gruppe B: Gesamtwirtschaft,
c) Gruppe C: Gewerkschaften,
d) Gruppe D: Sonstige Mitglieder.
Die Ernennung erfolgt:
a) für die Gruppe A auf Vorschlag des Bundesrates
b) für die Gruppe B auf Vorschlag der Spitzenverbände der
gewerblichen Wirtschaft, des Handels, der Landwirtschaft, des Handwerks und des Verkehrs,
e) für die Gruppe C auf Vorschlag der Gewerkschaften,
d) für Gruppe D auf Vorschlag des Bundesministers für Verkehr.
§ 10 (3)
Die Mitglieder sollen erfahrene Kenner des Wirtschaftslebens oder Eisenbahnsachverständige sein. ....
§ 10 (4)
Die Mitglieder haben ihr Amt nach bestem Wissen und Gewissen zum Nutzen des deutschen Volkes, der deutschen Wirtschaft und der Deutschen Bundesbahn zu versehen. ....
§ 12 Aufgaben des Verwaltungsrates
(1) der Verwaltungsrat beschließt über:
2. den Wirtschaftsplan nebst Stellenplan und den Jahresabschluss
4. die Aufnahme von Krediten und Anleihen .....
5. die Vorschläge für die Ernennung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern ....
8. die für die Finanzlage der Deutschen Bundesbahn wesentlichen Eisenbahn- und sonstigen Verkehrstarife,
9. den Bau neuer Bahnen und die Durchführung grundlegender Neuerungen oder Änderungen technischer Anlagen, .....
Vierter Abschnitt
Aufsicht
§ 14 Aufsichtsrecht des Bundesministers für Verkehr
(1) Der Bundesminister für Verkehr erlässt die allgemeinen Anordnungen, die erforderlich sind,
a) um den Grundsätzen der Politik erlässt die allgemeinen Anordnungen, die erforderlich sind,
a) um den Grundsätzen der Politik der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der Verkehrs-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik Geltung zu verschaffen,
b) um die Interessen der Deutschen Bundesbahn und der übrigen Verkerhsträger miteinander in Einklang zu bringen.
(3) Dem Bundesminister für Verkehr bleibt die Genehmigung grundlegender Neuerungen oder Änderungen technischer Anlagen, ....“
Die kurze Aufstellung der Paragraphen aus dem Bundesbahngesetz macht die hohe Abhängigkeit der Deutschen Bundesbahn von äußeren Einflüssen aus Politik und Wirtschaft deutlich. Der zwanzigköpfige Verwaltungsrat ist sogar laut § 10 (4) dazu verpflichtet, die deutsche Wirtschaftsinteressen, also auch die der konkurrierenden Verkehrsträger oder der Zulieferfirmen der Bahn – wenn man so will – vor die Bundesahninteressen zu stellen. (133)
1971 saßen im Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn neben Gewerkschaftern und Politikern der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ein Vorstandsmitglied der Ruhrkohle A.G., der Präsident der Handelkammer Köln, der Vizepräsident der Industrie- und Handelkammer Dortmund, ein Ingenieur für Tief- und Straßenbau, der Präsident des Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverbandes e.V. und ein Mitglied des Präsidiums des Verbandes Deutscher Reeder. (134) Mit ist kein privatwirtschaftliches Unternehmen bekannt, dass sich durch seine eigene Konkurrenz beraten lässt. Beziehungsweise bei Investitionsentscheidungen ihre Geschäftspartner gleich mit am Tisch sitzen lässt. Nicht ohne Grund wurde die Zusammensetzung des Verwaltungsrates in dem sogenannten „Brand-Gutachten“ im Jahr 1960 bemängelt. Die Autoren des Gutachtens sollten Vorschläge zur Gesundung der Deutschen Bundesbahn machen. (135)
2.1.3 Zukunftsaufgaben
Erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland konnte der systematische Aufbau der Eisenbahn angegangen werden. Dabei stand zunächst die Beseitigung der Kriegsschäden, aber auch schon der Ausbau der Eisenbahnanlagen im Vordergrund, denn auf das beginnende Wirtschaftswachstum und die zunehmende Konkurrenz mit anderen Verkehrsträgern musste die Deutsche Bundesbahn mit Steigerungen ihrer Leistungsfähigkeit reagieren. (136)
Die Teilung Deutschlands bewirkte nachhaltige Änderungen der Intensität und Richtung der Verkehrsströme. Sie dreht die Hauptverkehrsrichtung von der West-Ost-Ausrichtung auf die neue Nord-Süd-Richtung um. Daher war das Streckennetz der Deutschen Bundesbahn für die Bundesrepublik uneffektiv. 18 relativ gut ausgebauten Ost-West-Strecken verloren an Bedeutung. (137) Für die jetzt erforderlichen Transporte zwischen den Seehäfen bzw. dem Ruhrgebiet und Süddeutschland standen der Bundesbahn nur vier leistungsfähige Strecken zur Verfügung:
- die linke Rheinstrecke Köln – Koblenz - Mainz
- die rechte Rheinstrecke Köln – Niederlahnstein - Wiesbaden
- die Ruhr-Sieg-Strecke Hagen – Siegen – Gießen - Frankfurt
- die Nord-Süd-Strecke Bremen/Hamburg – Hannover – Fulda – Frankfurt – Würzburg – Stuttgart/Nürnberg/München (138)
Es war abzusehen, dass die Kapazität der Nord-Süd-Strecke sehr bald nicht mehr ausreichen würde und die Bundesbahn für eine Leistungssteigerung dieser Verkehrswege sorgen müsste. (139) Ähnliches galt auch für die Hauptstrecken im Ruhrgebiet, denen für die wirtschaftliche Wiederbelebung des Gebietes eine bedeutende Rolle zufiel. (140)
In den Jahren 1949/50 musste sich die Deutsche Bundesbahn entscheiden, mit welchen Mitteln sie den zukünftigen Anforderungen gerecht werden wollte. Das Ziel, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen, konnte durch mehrere Maßnahmen erreicht werden, wie z. B. die Erneuerung des Wagenparks oder einem verbesserten Oberbau. Einer der wichtigsten Punkte war jedoch eine schnellere Zugförderung durch den Einsatz moderner Triebfahrzeuge. (141)
Elektrisch betriebene Strecken waren 1949 auf Süddeutschland beschränkt, wenn einmal von der S-Bahn in Hamburg abgesehen wird.